Mensch – geh verwildern!

Eine Woche Wildnis und Erkenntnisse daraus: Wie können Menschen auf einfache Weise gemeinschaftlich und mit der Natur leben?

Irgendwas stimmt nicht mit unserer „Zivilisation“, nicht wahr? Wenn du diesen Blog liest, hast du das wahrscheinlich bereits erkannt 😉 Doch wie kann es anders gehen? Wie kann eine menschliche Kultur aussehen, in der Menschen mit der Natur statt gegen sie leben – in der wir uns als verantwortlicher Teil der Natur begreifen?
Ein Schlüssel ist da wohl – die Natur selbst. Und deshalb habe ich mich entschlossen, Zeit mitten in der Natur zu verbringen. Erstmal eine Woche – in Zukunft vielleicht länger. Ich bin also eine Woche „verwildert“ – im tschechischen Teil der sächsischen Schweiz, mit einer kleinen Gruppe von Menschen.
Und das war wichtig: Für mein Leben, meine Prioritäten, für mein Erleben von menschlicher Gemeinschaft, auch für den großen gesellschaftlichen Wandel, der ja bereits geschieht.

Fokus auf das Wesentliche

Warum ich das so wichtig finde? Ich versuche eine Erklärung, doch Worte können schwer beschreiben, was geschehen ist. Meine Körperlichkeit, meine Gefühle und Gedanken, mein Bewusstsein fühlt sich anders an als vorher.

Im Wald wird vieles unwichtig, was sonst den Alltag beherrscht. Anderes wird wichtig… Einfaches, Wesentliches.
Sich den Weg zurück zum Lager zu merken. Einen Schlafplatz zu finden, der trocken bleibt und der nicht gerade mitten auf einem Wildwechsel liegt. Eine geeignete Feuerstelle finden und sie trocken halten. Holz und Zunder fürs Feuer finden. Eine Hose flicken. Essbaren Wildpflanzen finden und kennenlernen. Sicher über Wurzeln und Steine klettern und dabei möglichst nicht gleich alle Tiere im weiten Umkreis verschrecken.
Planung und Termine ergeben wenig Sinn. Wir verabreden uns zu ungefähren Zeiten – wenn die Sonne ungefähr dort steht, sobald alle wieder im Lager sind… und passen unsere Aktivitäten an das Sonnenlicht und das Wetter an.

Und das alles ist auf tiefgehende Weise befriedigend. Im Wald kenne ich kein Verlangen nach Snacks oder Zucker oder Kaffee. Es gibt kein unentschlossenes Hin und Her zwischen Entscheidungen. Grübeleien und Gedankenschleifen enden wie von selbst. Ich höre auf, mich oder andere zu beschuldigen oder entschuldigen, zu vergleichen oder zu rechtfertigen. Ich verbringe Stunden damit, eine Hose zu flicken oder fasziniert die Muster zu beobachten, die die Sonne auf dem Boden zeichnet.
Scham? Ungeduld? Beurteilungen? Seltsame Zivilisationskonstrukte, an die ich keinen Gedanken verschwende.

Das Waldcamp

Die ersten Tage sind der Suche nach einem festen Lagerort gewidmet. Am dritten Tag ist er gefunden: in einem Fichtenwald direkt an einer Quelle, wo Wasser aus dem Felsen entspringt. Dort befestigen wir ein Tarp – also eine große Plane – als Regenschutz zwischen den Bäumen. Eine Feuerstelle richten wir auf einem großen Felsen ein, daneben unter einem Felsen lagern wir das Holz. In der Nähe spannen wir noch ein Tarp auf und hängen das Essen darunter auf, in etwa anderthalb Metern Höhe, so dass keine Tiere drankommen.

Wir brauchen Dinge wie Seile und Karabiner, Planen und scharfe Messer. Auch ein Feuerzeug verwenden wir, da unsere Feuermachkünste noch nicht ausreichen, um das feuchte Zundermaterial mit Funkenflug zum Glühen zu bringen. Andere Dinge improvisieren wir: Ein dicker Ast mit kleinen Zweigen dran wird zu einer Garderobenstange; Äste werden zu Heringen zurechtgeschnitzt, um die Tarps (Planen) am Boden zu befestigen; Moos wird zu Toilettenpapier…

Wir können uns aussuchen, ob wir im Lager schlafen oder woanders. Zwei andere „Verwilderinnen“ suchen sich gleich eigene Plätze in Höhlen, auf oder unter Felsvorsprüngen, oder bauen ein eigenes kleineres Tarp auf. Ich brauche erstmal ein paar Tage, um Vertrauen zu verfassen, doch dann ziehe ich nach und finde einen eigenen Platz in einem weichen Moosbett auf einem großen Felsen in einem Buchenwald.

Der Tagesablauf

Unser Tagesablauf folgt einem Muster, das sich anfühlt, als existierte es seit Millionen von Jahren – und es ist doch immer wieder neu und frisch und spannend. Auf ganz einfache, natürliche Weise entsteht so Verbundenheit und Gemeinschaft.
Morgens machen erstmal alle, was ihnen jeweils gefällt – im Wald herumstreunen, Stille genießen, Körperübungen, Tagebuch schreiben, frühstücken oder auch nicht. Und sobald im Laufe des Vormittags alle wieder im Lager sind, gibt es eine Morgenrunde mit den Themen:
Wie geht es mir gerade?
Was gibt es Neues und Wichtiges, das alle wissen sollten?
Was möchte ich gerne heute tun?
Was gibt es heute zu tun, damit es uns weiterhin gut geht (z.B. Feuerholz sammeln, Trinkwasser auffüllen, Essbares sammeln, kochen) – und wer macht das?

Das schafft Verbundenheit – und Aufgaben werden auf eine ganz natürliche, einfache Art verteilt, so dass alle beitragen und auch neues lernen können.

Dann gehen wir tagsüber allein oder gemeinsam unseren Aktivitäten nach. Beim Abendessen treffen wir uns wieder und danach gibt es die Abendrunde: Bei dieser Gelegenheit teilen wir miteinander, was wir gelernt haben – über Wildpflanzen, Handwerkliches, Tierspuren, Vogelstimmen oder was auch immer – und so können die anderen gleich mit lernen!

Ich lerne zum Beispiel, meinen Blick zu weiten und damit die Umgebung zu erfassen, mich leise und sicher barfuß auch über lange Strecken zu bewegen, Brennesseln schmerzfrei zu ernten und Schnüre aus ihren Fasern zu flechten. Ich lerne, Feuer mit Zunderschwamm, Harz, Fichtennadeln und Birkenrinde zu machen. Ich lerne viele Wildpflanzen vor Ort kennen und lese im Bestimmungsbuch von vielen weiteren, die ich woanders noch ausprobieren will. Ein dreijähriges Kind ist auch für ein paar Tage dabei und es blüht auf: So viel gibt es im Wald zu entdecken und zu lernen! Und die Erwachsenen trauen ihm zu, eigene Erfahrungen zu machen, anstatt es ständig mit „Nein“ oder „Pass auf“ an seiner Entwicklung zu hindern. Was für eine Freude, dies zu beobachten…

Und wir teilen bei der Abendrunde auch, was wir erlebt haben: die Geschichten des Tages! Dieser Teil ist mir richtig ans Herz gewachsen. Wir sprechen über denkwürdige Begegnungen mit Tieren, abenteuerliche Höhlenerkundungen, wundersame Entdeckungen und mehr…

Geschichten des Tages

Da war zum Beispiel der unglaubliche Anblick, als nach einem Regenschauer alle Wassertropfen auf den Grashalmen in der Sonne in verschiedenen Farben leuchteten.
Da waren die Begegnungen mit lauter leuchtend gelb-schwarzen Tieren: Eine große Raupe, eine Spinne mit so auffälligem Muster, dass ich sie Tigerentenspinne getauft habe 😉 , und sogar einem Feuersalamander.
Da war der Schreck, als mitten in der Nacht ein vierbeiniges Tier über einen der Schlafsäcke hüpfte. Vielleicht ein Fuchs?
Das Herzklopfen, als eine von uns mitten im tiefsten Wald eine Hütte entdeckte.
Das Wow!, als ich in den eiskalten Bergbach tauchte, dann kleidungsfrei durch den Wald zum Lager zurückkletterte und mich dabei wie eine Berglöwin fühlte.
Und vieles mehr…

Und jetzt?

Ich bin zurück in der „Zivilisation“. Sitze wieder auf einem Sessel, sogar wieder am Computer. Doch ohne inneren Widerstand, dafür mit innerem Frieden und Einsgerichtetheit.

Soll ich dies oder das machen? Ist diese Entscheidung richtig oder falsch? Solche Fragen sind verschwunden. Ich tue einfach das, was ansteht.
Das Leben, inklusive dem C…a-Theater, erscheint nun wie ein Spiel – in dem ich mir meine Rolle aussuchen kann und verändern kann, wenn ich das so entscheide.

Und natürlich hat die Zeit auch Fragen aufgeworfen – insbesondere zu meinem Verständnis von Gemeinschaft und Miteinander, und meinen Vorstellungen, in welchem Umfeld ich leben und wirken möchte.

Zeit in der Natur zu verbringen und sich auf sie einzulassen, verändert die Perspektive und rüttelt an Prioritäten. Sicher ist diese Erfahrung für jeden Menschen anders. Ich kann es nur wärmstens empfehlen.

4 Antworten

  1. „Und natürlich hat die Zeit auch Fragen aufgeworfen – insbesondere zu meinem Verständnis von Gemeinschaft und Miteinander, und meinen Vorstellungen, in welchem Umfeld ich leben und wirken möchte“.

    Danke für deinen Beitrag. den obigen Satz bewege ich auch.
    Schön finde ich, wie du den Ablauf des Tages beschreibst, wie die Menschen zusammen kommen, was Verbundenheit fördert.

    Liebe Grüße!
    Ann Kristin

  2. ja, ich finde es auch wichtig, so leben zu können, bzw. sich immer mal wieder so eine Auszeit zu nehmen. Was mir bislang aber noch nicht gelungen ist: über das ganze Jahr sich auf diese Art und Weise über Wasser halten zu können. Denn nur mit „Grünzeugs“ kommt mein Körper nicht klar. Es fehlen dann Kohlenhydrate, Öle/Fette … zumindest hier in den nördlichen Breitengraden, wo Nüsse oder andere mehr kalorienreiche Pflanzen(teile) nicht in wilder Bahn zu finden sind …

    1. Hallo Jürgen,

      ja nun, während unserer Zeit im Wald waren wir nicht konsequent, sondern haben Lebensmittel aus der „Zivilisation“ mitgenommen. Doch ich denke schon, dass es auch hierzulande durchaus möglich wäre, sich auch über längere Zeit aus der Natur zu ernähren. Es gibt ja nicht nur Blätter zu essen, und Pflanzen haben außer Nüssen auch andere kalorienreiche Teile.
      Doch natürlich müsste man… also ich… noch einiges dazulernen, um das zu schaffen 😉
      LG

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